Ehrlichkeit
Als Kind litt ich unter Pseudokrupp. Eine Krankheit mit heftigen Hustenanfällen – und manchmal auch Atemnot. Bei mir traten die Anfälle meist auf, wenn ich sehr aufgeregt oder der Tag äußerst erlebnisreich war.
Erzählungen nach muss ich 2 ½ oder 3 Jahre alt gewesen sein, als ich eines Nachts einen recht heftigen Anfall mit starker Atemnot hatte. So heftig, dass meine Eltern mit mir mitten in der Nacht in die Polyklinik gingen.
An einiges aus dieser Nacht kann ich mich bruchstückhaft erinnern. Der Weg zum Arzt bei meinem Vater auf dem Arm. Die Frage, was los sei. Die Fahrt im Krankenwagen zum Krankenhaus (ohne Blaulicht – was ich sehr enttäuschend fand). Die beiden Spritzen, die die Krankenschwester mir durch die Knie gehauen hat (mit voller Wucht). Den Schmerz.
Und daran, dass meine Eltern sagten, ich müsste jetzt ein paar Stunden im Krankenhaus bleiben und sie kämen dann noch in dieser Nacht und holten mich ab …
… sie kamen aber nicht.
Erst am nächsten Morgen. Sie sagten, sie hätten mit dem Arzt gesprochen und ich müsste noch eine Woche im Krankenhaus bleiben. Und eine Woche später hatte der Arzt gesagt, ich müsste noch eine Woche länger bleiben.
Die Verlängerung um zwei Wochen war schlimm. Ich durfte nicht nach Hause und das war grauenhaft. Und Krankenhäuser in den 70ern und in der DDR waren sicher keine Wohlfühlanstalten.
Das Schlimmste aber war die Enttäuschung aus dieser einen Nacht. Mama und Papa kamen nicht obwohl sie es gesagt hatten.
Dies ist keine Anklage. Ich mache meinen Eltern heute daraus keinen Vorwurf. Wenn wir in alten Zeiten schwelgen, reden wir auch darüber – mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Sie haben getan, was sie glaubten, was das richtige sei.
Und letztlich ist es das, was wir Eltern jeden Tag tun. Auch wenn andere eine andere Einstellung haben und beim Anblick dessen was wir tun, was wir sagen, wo und wie wir Grenzen setzen, die Hände überm Kopf zusammenschlagen und sagen »Wie kann man bloß …«.
Meine Eltern jedenfalls taten in dieser einen Situation, zu dieser Zeit, das was ihrer Überzeugung nach das richtige und beste für mich gewesen sei.
Man glaubte nunmal damals, man könne Kindern nicht die Wahrheit zutrauen. Man müsste sie vor der Wahrheit manchmal beschützen. Wer in meiner Generation kennt Sprüche wie »das verstehst Du noch nicht, dazu bist Du noch zu klein« nicht?
Meine eigene Erfahrung aber hat mich etwas anderes gelehrt. Das man einem Kind durchaus die Wahrheit zutrauen kann – ja sogar soll.
Ich hätte in der Nacht sicher bitterlich geweint, hätten sie mir gesagt, ich müsse die ganze Nacht und vielleicht noch Tage länger bleiben. Aber ich hätte es verkraftet und mich als kleine Person ernst genommen gefühlt. Wäre nicht die halbe Nacht in meinem Bettchen gestanden um zur Tür zu starren und zu glauben, gleich kämen sie um mich nach Hause zu holen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass ich meiner Tochter die Wahrheit zutrauen kann. Ja, sie sogar ein Recht darauf hat, von mir als erwachsenen ernst genommen zu werden. Ihr immer die Wahrheit zu sagen – mag sie auch im ersten Moment noch so schlimm sein.
Es ist auch an mir als erwachsenen darüber zu entscheiden wie ich ihr die Wahrheit sage. Welche Worte ich wähle, ob ich es ihr auf einmal oder vorbereitend in Häppchen sage. Und sie ist natürlich mit der Wahrheit nie alleine. Es ist an uns Eltern sie mit ihren Gefühlen aufzufangen, sie zu halten, zu trösten, zu stützen, die Wahrheit verstehen und verkraften helfen.
Ich werde einen Teufel tun und ihr vor einer Impfung sagen, der Arzt wolle nur mal schauen. Ich werde ihr nie sagen, dass die Spritze nur ein klein wenig piekst. Das tut sie nämlich nicht – nicht in ihrer Welt. In ihrer Welt tun Spritzen weh. Verdammt weh sogar. Und sie machen Angst. Und das ist nicht »gar nicht so schlimm«. Für sie ist das schlimm.
Auch wenn ich mal wieder ein paar Tage auf Geschäftsreise bin, dann sage ich ihr das am Abend zuvor und am Morgen meiner Abreise. Sie weiß dann, dass ich ein paar Tage weg bin, nicht nach Hause komme. Und ich sag ihr nicht, dass das nur ganz kurz ist – ich kann ja gar nicht einschätzen wie lange oder kurz sie eine Stunde empfindet. Was weiß ich dann, wie lange ihr mehrere Tage ohne mich vorkommen.
Ich hatte bisher nie das Gefühl, mit dieser Einstellung falsch zu fahren. Ganz im Gegenteil erfahre ich immer wieder, dass sie so viel mehr versteht, als ich im ersten Moment glaube.
Als ich diesen Sommer das erste Mal seit Ihrer Geburt wieder für drei Tage weg musste erklärte ich es ihr am Abend davor. Sie umarmte mich vorm Schlafen wie sie es noch nie zuvor getan hatte. Ganz fest, ganz dolle, ganz voll Liebe.
Und am Morgen als ich weg fuhr nochmal. Kein Weinen, keine Tränen. Nur diese ganz feste Umarmung an der Tür. Auch wenn sie vielleicht die Tragweite von »ein paar Tage« nicht verstand – sie verstand sehr wohl, dass ich eine Zeit nicht da sein werde und hat es akzeptiert.