Vorsicht, zerbrechliche Kinderseele
Es ist vielleicht zwei Wochen her. Wie eigentlich jedes Wochenende war ich mit der Tochter auf einem der vielen Spielplätze bei uns im Dorf. Eine ganze Zeit lang waren wir nur zu zweit. Irgendwann kam noch ein Mädchen zusammen mit ihrer Oma. Das Mädchen ist 3 Monate älter als mein Frosch und wir kennen sie und ihre Mutter aus der Krabbelgruppe. Mein Frosch mag sie und die beiden spielen auch gern zusammen, wenn sie sich sehen.
Aber an diesem Tag hatte das Mädchen keine Lust auf irgendwas. Schaukeln war doof. Rutschen war doof. Alles war doof. Mir schien, statt Spielplatz wollte sie viel lieber bei Oma auf den Arm und ihre Ruhe. Wir alle haben doch auch mal solche Tage.
Als das Mädchen auf einer 2er-Federschaukel schaukelte, wollte mein Frosch sich neben sie setzen und zusammen mit ihr schaukeln. Aber das Mädchen wollte die Schaukel viel lieber für sich allein. Sie blockte jeden Versuch des Frosches ab, sich neben sie zu setzen.
Die Großmutter redete immer strenger auf sie ein, sie solle doch Platz machen und den Frosch auch mit schaukeln lassen. »Das Mädchen will doch mit Dir schaukeln. Es ist doch genug Platz für Euch beide. Was hast Du denn heute nur?« Doch statt auf ihre Großmutter zu hören setzte sie sich in die Mitte der Bank. Das wiederum ließ die Oma nicht zu. Sie nahm sie jedes Mal, wenn sie in die Mitte rutschte und setzte sie mal auf den rechten, mal auf den linken Platz. Das Mädchen wurde langsam auch bockiger (was ich ziemlich gut verstand).
Eine Weile schaute ich mir das ›Schauspiel‹ passiv an. Als ich merkte, dass das alles nichts brachte und sich die Situation zwischen der Oma und ihrer Enkelin begann hochzuschaukeln – es waren vielleicht 2 oder 3 Minuten vergangen – nahm ich den Frosch auf den Arm und erklärte ihr, dass das Mädchen heute vermutlich einfach keine Lust habe gemeinsam zu spielen. Und dass das auch okay sei. Sie – der Frosch – habe schließlich auch manchmal einen Tag, an denen für sie alles doof ist und sie mit niemanden spielen wolle. Bestimmt würde das Mädchen beim nächsten Mal wieder mit ihr spielen.
Die Tochter – vernünftig wie sie mit ihren 22 Monaten schon ist – war zwar etwas geknickt, sagte aber zustimmend »ja«.
Zu der Großmutter meinte ich dann noch sowas wie »ist schon okay. Sie möchte heute nicht spielen. Das ist aber doch vollkommen in Ordnung und macht gar nichts. Wir können auch was anderes machen.«
Das wollte aber die Großmutter – aus welchen Gründen auch immer – nicht gelten lassen. Sie wollte auf Teufel komm ‚raus, dass ihre Enkelin mit meiner Tochter schaukelte. Sie wollte ihren Willen durchsetzen, ihre Autorität. Und so nahm sie die Enkelin nochmal, schob sie auf eine Seite und sagte:
Was ist denn heute mit Dir? Das Mädchen möchte mit Dir Schaukeln. Bist Du dumm oder was?
Mir fiel die Kinnlade ‚runter. Und ich wusste auch gar nicht, was ich sagen sollte. Mir entwich ein »Ist doch nicht schlimm. Beim nächsten Mal spielen sie wieder zusammen.« und dem Mädchen zugewannt wiederholte, dass ich, dass alles okay sei.
Im Nachhinein bereue ich, nichts anderes gesagt zu haben – nicht auf die Aussage der Frau irgendwie eingegangen zu sein. Ihr freundlich aber bestimmt zu sagen, was sie bei ihrem Enkelkind anrichtet. Wie schmerzhaft, wie verletzend das für das Kind ist, wenn eine Bezugsperson etwas derartiges von sich gibt. Sie dumm schimpft.
Aber ich hab einfach nicht gewusst, wie ich auf diesen dämlichen Spruch reagieren soll. Und mich auch nicht getraut – ich lebe in einem Dorf und laufe den Leuten regelmäßig über den Weg. In mir aber bebte es, geistig schüttelte ich heftig den Kopf und dachte bei mir »das arme Kind! Hoffentlich bekommt sie sowas nicht öfter zu hören«.
Ich weiß nicht, ob die Frau reflektiert, was sie bei ihrer Enkelin anrichtet. Ihr ins Gesicht zu sagen, wenn sie sich nicht so verhält, wie Oma es erwartet – wenn sie ihrem eigenen Willen und Empfinden folgt – sie geistig minderbemittelt sei. Ob sie reflektiert, dass auch ein »bist Du dumm oder was?« schlicht Gewalt gegen ihre Enkelin ist. Gewalt gegen die arme Kinderseele, in der das tiefe Spuren hinterlässt. Ohne auch nur die Hand zu heben hat sie die eigentlich unschuldige Kinderseele verletzt.
Warum erzähle ich das? Susanne Mierau von ›Geborgen Wachsen‹ hat mit ihrem Plädoyer für eine gewaltfreie Erziehung »Nicht nur Schlagen ist Gewalt – Ein Aufruf gegen Gewalt gegen Kinder« eine Blogparade zum Thema gestartet und nochmal deutlich darauf hingewiesen, dass nicht nur körperliche Gewalt Gewalt ist.
Die »Gewaltstudie 2013« der Universität Bielefeld, auf die sich Susanne bezieht, stellt auch nochmal deutlich heraus, dass
Gewalt äußert sich jedoch nicht nur durch Schläge, sondern auch durch (verbale) Missachtung. […] Erziehungswissenschaftler Prof. Ziegler: »Wir wissen, dass sich solche verbalen Missachtungserfahrungen deutlich – und unter Umständen auch stärker als körperliche Gewalterfahrungen – auf das Ausmaß emotionaler Probleme, das Wohlbefinden oder Selbstvertrauen der Heranwachsenden auswirken.«
Die Zahlen sind erschreckend. Erschreckend hoch. Trotz Aufklärungskampagnen, trotz Anlaufstellen, trotz gesellschaftlichem Wandel im Bezug auf die Einstellung zu (physischer und psychischer) Gewalt in der Erziehung machen noch so viele Kinder und Jugendliche in ihrem noch jungen Leben Erfahrungen mit Gewalt.
Ich hoffe – sollte ich nochmal in eine ähnliche Situation kommen, ähnliches hören – in Zukunft den Mut zu haben und die richtigen Worte zu finden, der Frau zu erklären, warum es grausam für die Seele ihrer Enkelin ist, solche herabwürdigenden und verletzenden Aussagen zu hören. Was es mit ihr machen kann und macht.
Vielleicht sollte man ihr den eindrücklichen Erfahrungsbericht »Die Würde des Kindes ist unantastbar«, der bei Mittsommar erschien ausdrucken und zum Lesen geben. In der Hoffnung, sie realisiert und reflektiert, was sie bei ihrer Enkeltochter anrichtet.
Am Ende bleibt die Einsicht, Zivilcourage ist leider einfacher gesagt als getan. Ich wünschte, es wäre nicht so. Ich hoffe inständig, beim nächsten Mal die Kraft und Worte zu haben. Zum Wohle des Kindes, dem Gewalt angetan wird.