Ohne Abi biste nichts

Anne Will redete mit Gästen über das Schulsystem und Chancengerechtigkeit – und ich bekam das große Kotzen. Auf einen Satz zusammengedampft: „Was muss sich ändern, damit alle Abitur machen und Akademiker werden“.

Diese allenthalben propagierte All-or-nothing-Mentalität geht mir gehörig auf die Klöten. Warum zum Henker muss denn jedes Kind Abitur machen müssen? Wollen die Medienmacher ernsthaft erst uns und über uns unseren Kindern eintrichtern, dass wertgeschätzt nur ist, wer Abitur hat?

Mal abgesehen von diesem ekelerregenden Gesellschaftsbild, das hier propagiert wird: wer deckt denn unsere Dächer, pflegt unsere Alten und Kranken, baut unsere Heizungen und Autos, betreut unsere Kinder, fährt unsere Busse, reinigt unsere Kanäle? Maurer mit Matura? Meint Ihr das ernst?


Durch Sendungen wie diese bauen die Medien einen Gesellschaftsdruck auf, der sicher nicht zu einer entspannten Kindheit beiträgt. Offensichtlich reichen die bereits geschädigten Kinder nicht. Klar, eine ganze Industrie verdient an Nachhilfen und der ‚Reparatur‘, wenn Kinder unter dem Leistungsdruck zusammenbrechen.

Oder vielleicht ist noch nicht ganz durchgedrungen, dass wir bereits Kinder mit Burn-Out haben. Kinder. Mit Burn-Out!


Und wenn ich sie dann von Chancengerechtigkeit schwadronieren höre. Und dabei klopfen sie sich auf die Schultern und finden sich ach so progressiv. So sozial verantwortungsvoll. Wörter, Sprache sind das Werkzeug von Journalisten. Ich nehme ihnen nicht ab, dass sie nicht wissen, was sie reden. Chancengerechtigkeit. Pah! Das ist doch nichts mehr, was wir erreichen müssen – das haben wir bereits.

Kinder mit vergleichbaren sozialen Voraussetzungen haben vergleichbare Chancen. Das ist Chancengerechtigkeit. Was wir aber brauchen ist Chancengleichheit. Nämlich das alle Kinder – ungeachtet vom Geldbeutel der Eltern und ihrer sozialen Voraussetzungen – die gleichen Chancen haben.

Jedesmal, wenn ein Journalist von Chancengerechtigkeit spricht, möchte er nur, dass sich nichts ändert und seine Kinder auch weiterhin einen besseren Zugang zum System haben als Kinder aus ärmeren Familien.

Und das weiß er! Sprache ist sein Métier. Er weiß um den Unterschied zwischen Chancengerechtigkeit und -gleichheit.


Die Frage ist doch nicht, wie bekommen wir alle Kinder dazu Abitur zu machen. Sondern wie schaffen wir es, dass Kinder ungeachtet ihrer Herkunft Abitur machen können. Die Frage lautet, wie reduzieren wir den Anteil an Akademikerkindern und erhöhen den Anteil an Arbeiterkindern an den Universitäten. Die Frage ist, wie ändern wir dieses bildungsfeudale System in dem letztlich nur die privilegierten unter sich bleiben.

Die Frage ist, wie bekommen wir junge Erwachsene dazu, in Bäcker, Alten- oder Krankenpfleger erstrebenswerte Berufe und Erfüllung zu finden. Wie erhöhen wir die Akzeptanz nichtakademischer Berufe, auf das auch Juristen und Ärzte es erstrebenswert fänden, würden ihre Kinder Konditor werden wollen.

Die Frage lautet: wie wollen wir die Zukunft dieses Landes gestalten. Nicht mehr aber auch nicht weniger.

Liebe Anne Will: das sind die Fragen die ich von einer gestandenen Journalistin hören und diskutiert haben möchte. Alles andere ist doch nur Alibi, das keiner braucht. Und was man nicht braucht, kann weg.