Erinnerungen an Tschernobyl

Es waren die ersten warmen Frühlingstage und wir konnten schon im T-Shirt draußen spielen. Daran erinnere ich mich noch sehr gut. Die Fußball-Weltmeisterschaft in Mexiko Stand vor der Tür und wir sammelten schon fleißig die duplo-Bildchen „unserer“ Mannschaft. Rummenigge und Schumacher fehlten mir noch.

Ich war zehn, als sich das Reden und Verhalten meiner Eltern und Lehrer veränderte und sich Begriffe in meine Welt drängten, die mir bis dahin unbekannt waren. Becquerel, Strahlung, Evakuierung, GAU, Tschernobyl.


In den Nachrichten wurde davon berichtet, dass es in der Sowjetunion zu einem GAU gekommen sei. Nach Tagen des Schweigens habe die sowjetische Regierung erstmals zugegeben, dass es einen Unfall gab und Menschen evakuiert wurden. Mama hatte Angst — nicht so eine Angst wie ich sie hatte als ich kleiner war und Monster unterm Bett fürchtete. Diese Angst war diffuser. Aber sie war ganz deutlich da.

Papa war wütend. Auf die Sowjets, die ihre eigene Bevölkerung lieber sterben ließ als die Wahrheit zu sagen, dass auch im Kommunismus manchmal Dinge kollosal schief gingen. Aber auch auf unsere Politiker, die erzählten, dass die westliche Technik viel sicherer sei und sowas wie Tschernobyl bei uns niemals nicht passieren könne. Er nannte sie „realitätsfremde Hohlbirnen“. Wir Kinder fanden die Bezeichnung lustig.

Und ich wurde ermahnt, dass ich mit meinen Freunden nicht mehr im Wald spielen durfte. Und wir durften nicht mehr auf Spielplätze. Am besten sollten ich und meine Freunde uns entweder bei uns oder bei denen zuhause treffen. Besser gar nicht mehr draußen spielen.

Wir wurden ermahnt, nicht durch den Regen zu laufen. Bei Regen sollten wir uns Schutz suchen, denn der Regen könne krank machen. Und meine Eltern kauften lange keine Milch und keinen Salat mehr. Milch und Salat seien verseucht erzählten sie uns.


In der Schule war Tschernobyl Thema. Unser Musiklehrer erklärte uns im Musikunterricht, dass das Land um Tschernobyl herum nun vermutlich für Millionen Jahre verseucht sei und dort genauso lange niemand mehr wohnen könne. Unser Mathelehrer erklärte uns, was Halbwertzeit bedeutet. Und in Gemeinschaftskunde zeigte man uns einen Geigerzähler und erklärte uns etwas über eine Strahlung, die wir nicht sehen und nicht schmecken und die trotzdem da ist.

Und so langsam bekamen selbst wir Kinder eine Vorstellung davon, was da so weit weg von zuhause passiert war. Und dass ‚weit weg‘ nicht heißt, es beträfe uns nicht. Denn es betraf uns ganz direkt.


Ein halbes Jahr später ging meine Schwester, meine Eltern und ich wie jeden Herbst ‚in die Pilze‘. Frische Waldpilze sammeln. Ich liebe frische Waldpilze — ganz besonders wie sie Papa zubereitet. Die Ernte war in diesem Herbst gigantisch. An einem Wochenende sammelten wir zwei Badewannen voll Pilze.

Doch Mama erinnerte sich plötzlich an etwas, was sie im Fernsehen gehört hatte. Der Waldboden und Pilze nähmen die Strahlung ganz besonders gut auf. Und keiner wusste, ob das nach sechs Monaten immer noch stimmte. Da war sie wieder, die Angst vor den Strahlen. Mama redete so lange auf Papa ein, bis er die ganze Ladung Pilze wegschmiss. Uns blutete das Herz!

Im Herbst 1986 gab es das erste Mal, seit ich denken konnte, keine frischen Waldpilze.