Die Versuchsobjekt-Generation

Wir sind die aufgeklärteste und von unseren Eltern emanzipierteste Elterngeneration, die es je gab. Quasi alles, was es über Erziehung, frühkindliche Entwicklung, Pubertät, Bindung, und vieles mehr zu sagen gibt wurde sicher schon in einem der unzähligen Ratgeberbücher, Zeitschriften, Blogs und Foren aufgeschrieben und besprochen. Die Buchhandlungen und das Internet quellen geradezu über vor Angeboten, die uns an die Hand nehmen und das Großziehen unserer Kleinen erleichtern wollen.

Auch in der Wissenschaft – wo Kinder seit jeher eher eine Randgruppe waren – wird in den letzten Jahrzehnten vermehrt geforscht und so wissen wir heute so viel mehr über kindliche Entwicklungsprozesse, frühkindliche Bildung, über Urvertrauen und die Entstehung von Selbstvertrauen und wie nachhaltig all das von einem „Klapps auf den Po“ ge- oder zerstört wird.


Wir sind die aufgeklärteste und von unseren Eltern emanzipierteste Elterngeneration, die es je gab – und die verunsichertste, ratloseste und zweifelndste.

Gerade weil quasi alles aufgeschrieben, gedruckt und besprochen ist und uns dargeboten wird – egal wie widersprüchlich es sein mag. Und da wollen auf Leserzahlen und Klicks optimierte pseudojournalistische Angebot wie Spiegel-Online, Stern oder Focus auch kräftig mitmischen.

Mehrmals täglich rotzen sie Artikel über Helikopter- oder deren Gegenspieler Laissez-Fair-Eltern, den Stress von Lehrern mit Eltern und Eltern mit Lehrern, auf Klickoptimierung getunte küchenwissenschaftliche Publikationen oder zumindest laienhafte Interpretationen selbiger, usw. in den digitalen Äther. Ganz so als gäbe es einen Preis für die größte Ansammlung dämlicher Text zum Thema „Familie“.

Da laborieren Eltern dann mit „Jedes Kind kann schlafen lernen“ oder „Jedes Kind kann Essen lernen“ herum oder übergeben ihre Erziehungssorgen gleich dem großen RTL Erziehungsexperiment – einer öffentlichen Vorführung der Kleinen inbegriffen. Ach, Kinder müssen besonders beschützt werden, papperlapapp. Das ist so 80er!


Und als sei das alles nicht genug, pokert die Bildungspolitik mit der Zukunft unserer Kinder in einem Wettstreit der dümmsten Vorschläge, was unsere Kinder noch so alles im Rahmen von unausgegorenen Pädagogikversuchen in der Schule lernen sollten. Der neueste Schrei ist „Informatik“ – natürlich schon für die Kleinsten. Nur eine Sache hab ich nicht verstanden – soll es jetzt den Informatikunterricht statt oder parallel zum Pro-Seminar „Volkswirtschaft für Drittklässler“ geben?

Vielleicht sollten wir zukünftig unseren Kindern schon pränatal Algorithmentheorie beibringen – früher spielten wir unseren ungeborenen Bach und Beethoven im Babybauch vor und heute geben wir ihnen mit „The Art of Computer Programming“ von Donald E. Knuth eine Vorlesung Informatik, zweites Semester.

Neulich, als ich unsere Kleine mal wieder in den Kindergarten brachte, lief ich auf dem Rückweg an unserer Grundschule vorbei. Und wie mir so auffiel, dass die ständig geschlossenen, krummen und verrosteten Jalousien am Lehrerzimmer schon seit bestimmt vier Jahren nicht einen Millimeter mehr bewegt wurden, dachte ich so bei mir: „Jawoll! Dr. Wanka[1] hat recht. Was unsere Schule braucht ist eine milliardenstarke Digitalisierungsoffensive!“.

Sie reden jetzt schon von Bildung 4.0 – und ich frag mich, was war an Bildung 1.0 eigentlich so verdammt buggy, dass es drei weitere Major-Releases bedurfte? Was war so verdammt falsch daran, als Grundschüler Lesen, Schreiben (mit dem Füller in der Hand!), Grammatik, Orthografie, Rechnen lernten, die Arten- und Pflanzenvielfalt in heimischen Wäldern mit ihren Lehrern erstaunt entdeckten und sich mehrmals die Woche im Sportunterricht auspowern konnten? Was. War. Daran. So. Unsäglich. Falsch?


Wir sind die aufgeklärteste und von unseren Eltern emanzipierteste Elterngeneration, die es je gegeben hat und unsere Kinder verkommen zu einer Generation wehrloser Versuchsobjekte.

Bildungsexperten und Eltern glauben an die Vorteile des individuellen und gemeinsamen Lernens. In der Praxis sind aber viele Schüler damit überfordert. […]

Die Klassen heißen Lerngruppen. Es gibt keine Noten, kaum Frontalunterricht. Jedes Kind arbeitet mit eigens erstellten Zielen, im eigenen Tempo. Dabei sollen die Älteren den Jüngeren helfen und nebenbei ihr Wissen verstetigen. […]

Auch Bildungsexperten wie Albrecht Wacker glauben, dass es längerfristig keine Alternative zur Gemeinschaftsschule gibt […]

(Quelle:ZEIT Online – Wunsch und Wirklichkeit)

Glauben? GLAUBEN? Bildungsexperten glauben an die Vorteile? Habt Ihr eigentlich noch alle Latten am Zaun? Ich unterwerfe doch mein Kind nicht einem Bildungskonzept weil „Experten“ spirituell von etwas überzeugt sind! Bevor ein Medikament auf den Markt kommt, muss es in einem jahrelang dauernden wissenschaftlichen Verfahren – inkl. teurer Doppelblindstudien – erprobt und zugelassen werden. Dieses Verfahren dauert mitunter ein Jahrzehnt! Und selbst dann kommt es zu Fehlern.

Aber Pädagogik … bei Pädagogik kann offensichtlich jeder Wald- und Wiesen-Bildungsexperte ein Konzept vorschlagen und sicher gibt es einen Politiker der ganz dolle glaubt, dass das schon richtig gut sein muss und es mal eben, hoppladihopp, einführt. Wissenschaftliche Belege für seine Theorien? Studien, erprobte Verfahren oder dergleichen? Pah! „Ich glaube daran führt zukünftig kein Weg vorbei! Wir stehen schließlich im Wettbewerb mit China!“.

Aber was scheinbar vergessen wird: bildungspolitische Entscheidungen haben eine enorme Tragweite. Beispielsweise auf das Wohlbefinden und die geistige Gesundheit von Kindern. Das ist nichts, was man mal eben übers Knie brechen kann und darf und dann nach zwei Jahren wieder abschafft. „Ups, Entschuldigung. War doch nicht so dolle wie gedacht“. Für die Kinder ist das eine Katastrophe – für den Rest ihres Lebens.

Soweit die Theorie. Steinfeld spricht jedoch aus der Praxis: Lenyas Trauma wirke sogar drei Jahre nach dem Wechsel auf eine ganz normale Grundschule noch nach, sagt sie.

(Quelle: ZEIT Online – Wunsch und Wirklichkeit)

Es gibt Tage, da möchte ich mir den nächsten Bildungspolitiker krallen, ihn schütteln und anschreien „Mein Kind ist doch kein Versuchslabor! Hört endlich auf, unser Kinder Zukunft für Eure politischen Karrieren zu missbrauchen!“ Es gibt Tage, da wünsche ich mir, es käme einer und drehte erstmal die ganzen Bildungssünden der letzten 20 Jahre zurück auf „Los“. Und das bitte noch vor September 2019, also bevor mein Tochter in die Schule kommt.


Wir sind die aufgeklärteste und von unseren Eltern emanzipierteste Elterngeneration, die es je gab … Ach, ich weiß es doch auch nicht. Ich geh mir jetzt erstmal einen Ratgeber kaufen.


  1. Was qualifiziert eigentlich die Naturwissenschaftlerin und Bundesbildungsministerin Dr. Wanka dazu über die Bildungszukunft meiner Tochter zu bestimmen? ↩︎